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22. Juni 2017

Übende Kinder und lärmempfindliche Nachbarn

In den vergangenen Tagen ging ein Urteil des Amtsgerichtes München durch die Presse, in dem es um den Streit zwischen einer Famile mit drei musizierenden Kindern und deren Nachbarn ging. Wir geben hier weitere Hintergrundinformationen.


Die nmz meldet z.B.:
Urteil: Musik ist kein Lärm – Kinder dürfen weiter musizieren
19.06.17 – München – (Von dpa, KIZ) Vier Kinder, die in ihrem Münchner Zuhause regelmäßig Schlagzeug, Saxofon und Tenorhorn spielen, dürfen das auch weiterhin tun – selbst wenn dabei mal die eine oder andere Ruhepause übersehen wird. Das hat das Münchner Amtsgericht entschieden und damit die Klage eines benachbarten Ehepaares abgewiesen.

Wie das Gericht am Freitag mitteilte, hatten sich die Eheleute von den Tönen der Nachwuchsmusiker aus dem ebenfalls freistehenden Nachbarhaus wesentlich beeinträchtig gefühlt. Die Klänge würden teils 70 Dezibel überschreiten und Ruhezeiten würden nicht eingehalten, so die Kläger.

Nachdem der Richter die Lärmprotokolle überprüft hatte und selbst vor Ort den Tönen lauschte, kam er laut Mitteilung zu dem Schluss, dass der Geräuschpegel nicht den «Grad der Unzumutbarkeit erreiche» und es nur wenige Ausreißer bei der Einhaltung der Ruhezeiten gegeben habe. Da laut Urteilsbegründung außerdem von minderjährigen Kindern die Regeleinhaltung nicht ohne weiteres verlangt werden kann und die Entwicklung der Minderjährigen unter besonderem Schutz stehe, sei dem Musizieren der Kinder Vorrang einzuräumen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig (Az.: 171 C 14312/16).


Direkte Quelle dafür dürfte die Pressemitteilung des Amtsgerichtes München sein:

Musik ist kein Lärm
Bei Musizieren handelt es sich in der Regel nicht um Lärm.

Die beiden Streitparteien sind unmittelbare Nachbarn in der Bürgermeister-Keller-Straße in einem allgemeinen Wohngebiet in München und jeweils Eigentümer eines mit einem freistehenden Haus bebauten Grundstücks.
Die Kläger bewohnen ihr Haus in der Regel alleine. Die Beklagten bewohnen ihr Haus mit ihren vier minderjährigen Kindern. Die Kinder des beklagten Ehepaares spielen seit Jahren regelmäßig Musikinstrumente, nämlich Schlagzeug, Tenorhorn und Saxofon.
Das klagende Ehepaar behauptet, die Kinder würden auch während der vorgeschriebenen Ruhezeiten regelmäßig musizieren. Die bei den Klägern eintreffende Lautstärke erreiche regelmäßig Werte von deutlich über 55 dB, teilweise bis zu 70 dB.
Das klagende Ehepaar erhob Klage vor dem Amtsgericht München gegen die Nachbarn. Sie verlangen, dass diese es unterlassen, in einer Weise Lärm durch Musikinstrumente zu erzeugen, dass die Nutzung ihres Anwesens wesentlich beeinträchtigt wird.
Das beklagte Ehepaar behauptet, dass während des Musizierens die Türen und Fenster stets geschlossen sein. Es wird bestritten, dass durch das Musizieren Geräusche verursacht werden, die über 55 dB liegen. Während der Nachtruhe würde nicht musiziert.
Der zuständige Richter wies die Klage ab.
Das Gericht wertete die von der Klagepartei vorgelegten Lärmprotokolle aus. Danach sind über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren weniger als eine Handvoll relevanter Fälle festgehalten worden. „Das Gericht muss daher davon ausgehen, dass in aller Regel in den Mittagsstunden gerade nicht musiziert wird. Dass es einige wenige Ausreißer gegeben hat, das mag so sein. Hier muss man aber berücksichtigten, dass es sich bei den Lärmverursachern um minderjährige Kinder handelt. Von diesen kann nicht ohne weiteres die Einhaltung von Regeln verlangt werden wie bei volljährigen Personen. Es liegt in der Natur der Kindheit und des Erwachsenwerdens, dass man Grenzen überschreitet, Regeln bricht und daraus und aus
den negativen Konsequenzen lernt…
Einen relevanten Rechtsverstoß kann das Gericht vorliegend nicht erkennen, selbst wenn das Musizieren zu Mittagszeiten untersagt sein sollte“, so das Urteil.
Das Gericht hat Abstand davon genommen, die Lautstärke objektiv durch einen Sachverständigen messen zu lassen. Musik könne nach dem Verständnis des Gerichts nur dann als Lärm klassifiziert werden, wenn jemand absichtlich den Vorgang des Musizierens in eine bloße Produktion von Geräuschen pervertiere. Der zuständige Richter machte sich vor Ort ein Bild der Lage. Er kommt zu dem Ergebnis: „Insbesondere das Schlagzeug war deutlich – auch bei beidseits geschlossenen Fenstern – zu vernehmen. Der Geräuschpegel erreichte aber zur vollen Überzeugung des Richters nicht den Grad der Unzumutbarkeit“. Das Urteil weiter: „Bei der hier vorzunehmenden Güterabwägung sind auch die Vorgaben der Verfassung, hier insbesondere Artikel 6 GG zu berücksichtigen. Die gesunde Entwicklung junger Menschen steht unter dem besonderen Schutz und in dem besonderen Interesse des Staates. Die Gesellschaft hat sich bei Abwägungsfragen an dieser Wertentscheidung zu orientieren. Daher kommt der zuständige Richter vorliegend zu der Überzeugung, dass dem Interesse der Kinder der Beklagten an der Ausübung des Musizierens der Vorrang einzuräumen ist.“

Urteil des Amtsgerichts München vom 29.3.17
Aktenzeichen 171 C 14312/16
Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

Monika Andreß
Pressespecherin
Richterin am Amtsgericht als weitere aufsichtführende Richterin

Zur Auslegung des Urteils findet sich z.Zt auf rechtstipp24.de folgender Kommentar:

Müssen Nachbarn lautes Musizieren durch Nachbarskinder dulden? (AG München, Urt. v. 29.03.2017 – 171 C 14312/16)

19. Juni 2017

Kinderlärm ist kein Lärm. Im Bundesimmissionsschutzrecht wurde diese Aussage bereits von der Rechtsprechung anerkannt und hat auch Eingang in § 22 Absatz 1a BImSchG gefunden. Danach sind von Kindern ausgehende Geräusche im Regelfall keine schädlichen Umwelteinwirkungen. Nachbarn, die sich gegen nervtötenden Lärm auf einem Spielplatz beschweren, stoßen daher bei den Behörden regelmäßig auf taube Ohren. Der deutsche Gesetzgeber geht nämlich davon aus, dass Kinderlärm Ausdruck von Lebensfreude ist und der Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit dient (Art. 2 Absatz 1 GG). In Abwägung mit den Interessen derjenigen, die sich vom Lärm gestört fühlen, ist den Kinderrechten in der Regel der Vorzug zu geben.

Amtsgericht München

In Bezug auf eine Entscheidung des Amtsgerichts München wird in den Medien nun berichtet, dass die Geräusche musizierender Nachbars- kinder hinzunehmen sind (vgl. AG München, Urteil vom 29.03.2017 – 171 C 14312/16).
Nachbarn, die in einem frei stehenden Haus wohnen, hatten sich über Ruhestörungen durch musizierende Kinder beschwert, die im benachbarten ebenfalls frei stehenden Haus wohnen und regelmäßig Schlagzeug, Tenorhorn und Saxofon spielten. Die Nachbarn fertigten Lärmprotokolle mit Angaben zu Uhrzeit und Art der Geräusche und forderten Unterlassung von Ruhestörungen.
Ohne Erfolg: Das Amtsgericht wies die Klage ab.
Anhand der Lärmprotokolle stellte das Amtsgericht fest, dass Beanstandungen während der Mittagszeit und während der Nachtruhe nur ausnahmsweise festzustellen waren. Daraus könne kein Unterlassungsanspruch hergeleitet werden.
Maßgeblich für die Entscheidung war die Annahme, dass es sich um minderjährige Kinder handelte, von denen nicht ohne Weiteres die Einhaltung von Regeln verlangt werden könne. Vielmehr liege die Überschreitung von Grenzen in der Natur der Kindheit.
Eine sachverständige Messung der Geräuschintensität hielt das Amtsgericht nicht für notwendig, denn Geräusche seien nur dann als relevante Beeinträchtigung anzusehen, wenn mit den Instrumenten schlichtweg Lärm erzeugt werden soll. Bei einem „normalen“ Musizieren sei das nicht der Fall.
Bei der Entscheidung bemühte das Amtsgericht auch verfassungs- rechtliche Vorgaben und meinte, dass bei der Güterabwägung besonders Art. 6 GG zu berücksichtigen sei.

Würdigung

In der Grundaussage ist die Entscheidung zu begrüßen, denn Kinder brauchen Freiraum.
Damit verträgt es sich nicht, wenn Nachbarn mit der Stoppuhr Ruhezeiten überwachen und im Falle des Verstoßes Ordnungsgelder durchsetzen können. Der in den Medien teilweise wiedergegebenen Interpretation, dass Nachbarn den Lärm musizierender Nachbarskinder hinzunehmen haben, ist aber zu widersprechen. Denn diese Aussage widerspricht der Rechtslage. Es mag sein, dass die Entscheidung des Amtsgerichts in dem konkreten Fall richtig war.
Es gibt aber einige Punkte, die durchaus kritisch hinterfragt werden können:
Die Aussage, dass man minderjährigen Kindern keine Vorschriften machen könne, weil das Übertreten von Grenzen zur Kindheit gehöre, ist nicht plausibel.
Wenn man Kindern das Übertreten von Grenzen zubilligt, bedeutet das nicht, dass man ihnen keine Grenzen setzen sollte.
Vielmehr funktioniert das zur Kindheit gehörende Übertreten von Grenzen nur dann, wenn es Grenzen gibt. Wenn die Aussage des Amtsgerichts zutreffen würde, könnte man auch gleich die StVO abschaffen, weil sich Autofahrer ohnehin nicht an Verkehrsregeln halten.
Dass das Amtsgericht eine sachverständige Schallmessung nicht für notwendig hielt und Lärm nur bei einem Musizieren um des Lärms willen für relevant hält, begegnet erheblichen Bedenken. Damit würde es den Nachbarn unmöglich gemacht, sich überhaupt jemals gegen Musiklärm minderjähriger Kinder zu wehren. Denn bei Lichte betrachtet wird damit eine Auseinandersetzung mit der Güte des Musizierens verlangt.
Das dürfte einer rechtlichen Prüfung nicht standhalten, denn auch wenn sich jemand Mühe gibt beim Musizieren, kann darin eine Beeinträchtigung liegen.
Das Amtsgericht dürfte damit in dem Fall ein Beweisangebot übergangen haben, was in der Berufung zur Aufhebung des Urteils geführt hätte.
Lobenswert ist, dass sich das Gericht mit Grundrechten auseinandersetzt.
Die Argumentation mit dem Schwerpunkt auf Art. 6 GG liegt aber neben der Sache: Art. 6 GG schützt die Ehe und die Familie und das Erziehungsrecht der Eltern.
Durch Unterlassungsbegehren würde zwar auch in das Erziehungsrecht der Eltern eingegriffen, bei einem solchen Eingriff ist aber vielmehr eine Güterabwägung von Bedeutung, bei der die Rechte der Kinder und die Rechte der Nachbarn zu berücksichtigen sind.
In der einen Waagschale liegt daher das allgemeine Persönlichkeits- recht der Kinder und deren freie Entfaltung (Art. 2 Absatz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und auf der anderen das Recht der Nachbarn, in Ruhe sein zu dürfen (Art. 2 Absatz 1 GG) und gegebenenfalls – je nach Intensität der Beeinträchtigung – das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Absatz 2 Satz 1 GG). Dass die Eltern dabei entscheidende Vorgaben machen, berührt zwar auch deren Erziehungsrecht, spielt aber bei der Abwägung der Interessen der musizierenden Kinder mit den Interessen der Nachbarn nur eine untergeordnete Rolle, denn das grundrechtlich gewährleistete Erziehungsrecht ist nicht grenzenlos gewährleistet, sondern nur in dem Maß, in dem Rechte Dritter nicht unzumutbar beeinträchtigt werden.
Ob das der Fall ist, bestimmt sich nicht anhand von Art. 6 GG, sondern der Abwägung der Kinder- mit den Nachbarinteressen.

Falsche Impulse

Die im Lichte der Kinderrechte stehende Entscheidung ist daher geeignet, falsche Impulse zu setzen, denn sie kann, gerade im Kontext mit der Medienberichterstattung, den Eindruck erwecken, dass Schlagzeugspielen durch minderjährige Kinder jederzeit erlaubt ist.
Das ist falsch.
Vielmehr ist es sowohl Eltern als auch Kindern zuzumuten, in gewissem Maß Regeln einzuhalten. Dass es gerade bei minderjährigen Kindern keine Garantie für die strikte Einhaltung von Regeln gibt, liegt in der Natur der Sache.
Daraus lässt sich aber kein Freibrief dahingehend herleiten, dass es deshalb keiner Regeln bedarf.
Es darf mit Spannung erwartet werden, wie andere Gerichte die Münchner Entscheidung rezipieren.

(Tile Gabloffsky, Stralsund; rechtstipp24.de)

Fazit der Redaktion von dtkv-berlin.de:
Bei Streitigkeiten zwischen Nachbarn, bei denen es um Üben und Musizieren und die daraus entstehenden Geräusche und deren Wahrnehmung geht, wird es wohl auch in Zukunft bei Einzelfallentscheidungen bleiben, die den Gesamtzusammenhang der jeweiligen Umständige würdigen. Empfehlenswert ist daher sicherlich der Versuch, von vornherein nach Möglichkeit einvernehmliche Lösungen zwischen allen Beteiligten zu suchen.
(UCM)

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